marion stuhlmann

Von Sylvia vom Hofe
So ist das nicht vorgesehen: dass die Mutter die Tochter beerdigt. Daran kann man zerbrechen. „Das hätte meine Marion aber nicht gewollt“, sagt die Mutter. Und lächelt.

 

In einem Baumgrab unter einer alten Buche auf dem Selmer Friedhof hat Marion Stuhlmann ihre letzte Ruhestätte gefunden. FOTO vom Hofe

marion stuhlmann

Dieses Lächeln. Es umspielt nicht nur Eleonore Stuhlmanns Mund, sondern strahlt auch aus ihren Augen. Es ist nicht willentlich antrainiert als Zeichen von Tapferkeit, sondern kommt aus dem Herzen. Ist echt. Und bleibt nicht alleine. Auch Sonja Hirlehei-Naffin, die Frau, die neben der 67-Jährigen am Tisch sitzt, lächelt so. „Die Marion hätte dir auch was erzählt, wenn das anders wäre“, sagt sie. „Oh ja.“ Bekräftigendes Kopfnicken. „Das konnte sie.“ Jetzt lachen beide. Das Gespräch über Sterbebegleitung und Tod beginnt ganz anders, als ich es erwartet hätte.

Wir sitzen im Versammlungsraum des Hospizvereins Selm, Olfen, Nordkirchen: im Obergeschoss des weißen Hauses an der Kreisstraße. Es ist einer dieser heißen Herbsttage. Die Kühle des abgedunkelten Raums tut gut. Die herzliche Vertrautheit der beiden Frauen ebenfalls. Auch ich lächele. Dabei kenne ich Marion Stuhlmann gar nicht: diese Frau, die gerade einmal so alt geworden ist, wie ich selbst heute bin: 48 Jahre. Marion ist gestorben am 22. August 2017. 34,5 Jahre vor dem durchschnittlichen Lebensende von Frauen in NRW. Und ein Jahr nach der Diagnose.

Marion hat Schmerzen. Schon seit Wochen ein rätselhaftes Ziehen, das nicht besser wird. Ganz im Gegenteil. Am 15. August 2016 ist es so schlimm, dass die Selmerin schließlich zum Arzt geht. Sie wird gleich ins Krankenhaus eingewiesen. Als sie es am 30. August wieder verlässt, weiß sie, was jeder weiß: Das Leben ist endlich. Nur, dass das Ende für sie plötzlich in greifbare Nähe gerückt ist: Brustkrebs mit Metastasen in der Leber und in den Knochen. Die Ärzte machen ihr nichts vor. Heilung gibt es nicht. Vielleicht, sagen sie, habe sie noch bis Ende des Jahres. Vielleicht. An dieser Mitteilung kann man zerbrechen, noch bevor es wirklich zu Ende ist. Marion nicht. Ihre Mutter auch nicht. Das habe, sagt diese, auch mit Sonja Hirlehei-Naffin zu tun: einer der ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen der Hospizgruppe Selm, Olfen, Nordkirchen.

Betsy war gleich klar, dass die Chemie stimmen würde. Marion Stuhlmanns winziger Mischlingshund empfängt Sonja Hirlehei-Naffin bei ihrem ersten Besuch freudig bellend an der Wohnungstür. Wie nur das Gespräch beginnen mit einer wildfremden Frau, die anbietet, einem zur Seite stehen zu wollen bei so etwas Intimen wie dem eigenen Sterben? Der kleine Kläffer Betsy beantwortet diese Frage für sein Frauchen: mit einem Erfahrungsaustausch über Hunde. Da kann auch Sonja Hirlehei-Naffin gleich einsteigen. Sie hat selbst einen Vierbeiner, kaum größer als Betsy. Die erste gemeinsame Stunde verfliegt im Nu. Als Sonja Hirlehei-Naffin wieder aufbricht – nicht ohne vorher die nächsten Treffen verabredet zuSonja Eleonore haben - , fühlt sich das bereits an wie der Abschied von einer langjährigen Bekannten. „Einer Freundin“, korrigiert Mutter Eleonore mehr als zwei Jahre später am Tisch im schattigen Versammlungsraum. „Die beiden haben sich auf Anhieb toll verstanden.“ Freundschaft sei immer ein Geschenk. Angesichts des Todes ein besonders wertvolles.

Es läuft nicht immer auf Anhieb so gut. Dr. Antje Münzenmaier weiß das. Jedes Jahr suchen die Vorsitzende des Hospizvereins, die selbst Ärztin ist, und ihre Mitstreiter für rund 50 bis 60 Menschen Begleiter auf dem wohl schwierigsten Abschnitt des Lebensweges: dem letzten Stückchen. Manchmal sind es nur wenige Meter: ein paar Nachtwachen am Bett eines alten Menschen. Manchmal ist es aber auch eine ganze Strecke, auf der noch viel zu erledigen ist: Beziehungen klären, den letzten Grund suchen, das Unvermeidliche akzeptieren lernen. „Die Art der Unterstützung richtet sich dabei ganz nach den Wünschen der Betroffenen und ihrer Angehörigen“: erzählen, vorlesen, zuhören, Spaziergänge unternehmen, kleine Besorgungen machen – aushalten und ertragen helfen. „Wir möchten dafür eine vertrauensvolle Beziehung aufbauen.“ Alle Einsatzkräfte seien dafür geschult. Notfalls würden Begleiter aber auch getauscht. Dass aber für einen Patienten gar keine passende Begleitung habe gefunden werden können, sei noch nie vorgekommen.

Und der Hospizverein existiert bereits seit 2003. Das Ziel hat sich seitdem nicht geändert. Es ist in der Satzung nachzulesen: „Unheilbar Kranken und Sterbenden „(...) unabhängig von ihrer Abstammung, ihrem Geschlecht, ihrer Herkunft, ihrer politischen und religiösen Überzeugung bis zu ihrer letzten Lebensstunde, möglichst im Zusammenwirken mit Familienangehörigen und Freunden (...) unter sachkundiger Anleitung Begleitung und Trost“ geben.

Sonja Hirlehei-Naffin ist seit Anfang an dabei. Sie arbeitet an einer Schule für geistig und körperlich behinderte Kinder. Regelmäßig beobachtet sie, wie schwer sich die Gesellschaft tut mit einer „Selbstverständlichkeit“, wie sie sagt: „Dass Sterben zum Leben gehört.“ Und dass es Leben ohne Sterben nicht gibt.

Die meisten Menschen (47 Prozent) sterben nach Angaben des Deutschen Hospiz- und Palliativverbands (DHPV) im Krankenhaus, rund 30 Prozent in einer stationären Pflegeeinrichtung und nur etwa 25 Prozent zu Hause. Immerhin: 1980 waren es noch 55 Prozent, die im Krankenhaus starben.

Der Wert ist seitdem langsam gesunken, wie das das Max-Planck-Instituts für demografische Entwicklung in Rostock im November 2018 mitteilte. Dennoch: Der verbliebene Wert ist immer noch deutlich höher als das, was sich die Mehrheit der Deutschen wünscht. Laut einer Umfrage, die die DHPV 2012 bei der Forschungsgruppe Wahlen 2012 in Auftrag gegeben hatte, können sich nur vier Prozent der Menschen in Deutschland, die sich über ihren eigenen Tod Gedanken gemacht haben, vorstellen, im Krankenhaus zu sterben. 58 Prozent wollen zuhause sterben.

Sonja Hirlehei-Naffin hat als Kind noch erlebt, wie Verwandte, Freunde und Nachbarn zusammenkamen, wenn jemand im Sterben lag. Dass es feste Rituale des Abschieds und der Trauer gab, die alle seit Generationen kannten. Dass die Menschen starben, wo sie lebten: zuhause. Wo der Tod erwartet wird, bleiben heute Gäste lieber fort. Um nichts verkehrt zu machen, tun sie lieber nichts. Und schweigen, um nichts Falsches zu sagen. Begleitung erwarten sie stattdessen von denen, die sich damit vermeintlich auskennen: Pflegepersonal und Ärzteschaft. Doch die haben keine Zeit, um Hände fest- und Stille auszuhalten. Anders als Sonja Hirlehei-Naffin und ihre ehrenamtlich arbeitenden Kolleginnen und Kollegen. Schweigen? Das ist eher die Ausnahme, wenn Sonja Hirlehei-Naffin Marion Stuhlmann besucht. Die beiden Frauen, die sich erst wenige Wochen kennen und dennoch so gut verstehen, reden lieber: über Vier- und Zweibeiner. Über Gott und die Welt. Über Bestrahlung und Chemotherapie. Wie viel Behandlung ist sinnvoll, wenn es doch keine Heilung gibt, sondern lediglich das Leben verlängert wird?

Mutter Eleonore ist Marion Stuhlmanns wichtigste Vertrauensperson. Inzwischen auch ihre Pflegekraft. Marion kommt nicht mehr ohne Unterstützung aus. Sie hat ihre Wohnung im selben Haus aufgegeben und ist zu ihrer Mutter gezogen. Die beiden verstehen sich blendend. Aber trotzdem – oder gerade deswegen – tut es gut, auch mit

einem Außenstehenden zu sprechen. Um sich selbst Dinge klar zu machen. Bevor man sie demjenigen klar macht, den man liebt.

„Mama, du weißt ja, dass ich sterben muss?“, fragt Marion Stuhlmann eines Tages ihre Mutter. Die antwortet: „Ja, das weiß ich.“ Für die palliative Chemo entscheidet sich die Tochter trotzdem. Die Behandlung gibt dem endenden Leben mehr Tage. Dafür, dass diese Tage auch voller Leben sind, sorgt auch Sonja Hirlehei-Naffin. „Weißt du noch, wie wir Eis essen waren?“, fragt sie Eleonore. „Na klar.“ Viel gelacht haben sie unterwegs, wie so oft. Und Pläne gemacht. Für Marions Geburtstagsfeier.

Als der Physiotherapeut an diesem Montag, eine Woche vor ihrem 49. Geburtstag, kommt, möchte Marion die Übungen nicht machen. Macht nichts, sagt der Therapeut. Dann lass uns zusammen einen Kaffee trinken. Gute Idee. Die beiden und Mutter Eleonore plaudern. Nichts lässt vermuten, dass es Marions letzter Nachmittag sein würde. Dass sie nicht noch einmal ins Krankenhaus muss, steht fest. Das hat Marion Stuhlmann in ihrer Patientenverfügung so bestimmt. Sie will zuhause sterben. Ihre Mutter hat eine Notrufnummer für den Palliativ- Pflegedienst und die Ärztin. Für den Fall der Fälle. Dass der gerade eintritt, ahnt sie erst, als sich der Atem ihrer schlafenden Tochter verändert. „Wie kochendes Wasser.“ Da ist es gegen 1 Uhr nachts. Um 2.20 Uhr lebt Marion Stuhlmann nicht mehr. Ein paar Stunden später zur Frühstückszeit ruft Sonja Hirlehei-Naffin an, nichts ahnend: „Na ihr zwei, wie geht es euch?“ Einen Augenblick später sitzt sie im Auto und fährt zu Eleonore Stuhlmann. Die Frauen fallen sich in die Arme. Beide „völlig überrumpelt“ von dem Tod, der lange angekündigt war und dann doch unerwartet kam. „Für Marion war es so am besten“, sagt die Mutter gut ein Jahr später. Und für sie? Die Frage ist raus, als mir klar wird, dass eine Mutter darauf keine Antwort geben kann. Unmöglich. Jeden Tag gehe sie zum Friedhof, sagt Eleonore Stuhlmann stattdessen. Mit ihrem Hund.

Zu Sonja Hirlehei-Naffin hält sie immer noch Kontakt: mal ein Kaffeetrinken, mal ein Telefonat. „Wir schicken uns auch WhatsApp-Nachrichten“, sagt die eine. „Häufig Witze“, sagt die andere. Beide lachen. Marion hätte das gefallen. Ihre Todesanzeige in den Ruhr Nachrichten lese ich erst jetzt, viele Wochen nach dem Gespräch: „Wenn ihr an mich denkt, seid nicht traurig, erzählt lieber von mir und traut euch ruhig, zu lachen. Lasst mir einen Platz zwischen euch, so wie ich ihn im Leben hatte. Bewahrt die Erinnerung an mich in euren Herzen.“

Dr. Antje Münzenmaier, Ärztin und Vorsitzende des Hospizvereins Selm-Olfen-Nordkirchen »Unser Verein macht pro Jahr etwa 50 bis 60 Begleitungen.«

Quellenanchweis: Ruhrnachrichten vom 26. Januar 2019
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Sterben und Tod